Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit seinem Urteil vom 21. September 2023 (Az: B 3 KR 11/22 R) einen bedeutenden Präzedenzfall geschaffen, der die Rechte von Arbeitnehmern im Krankheitsfall stärkt. Es ging um die Frage, ob und unter welchen Umständen Krankengeld auch bei einer verspätet vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) gewährt werden kann.
Der Fall: Eine Frage der Lückenlosigkeit
Die lückenlose Vorlage von AU-Bescheinigungen ist eine gesetzliche Anforderung für den Bezug von Krankengeld. Dies soll Missbrauch verhindern und sicherstellen, dass nur wirklich arbeitsunfähige Personen Leistungen erhalten.
Im vorliegenden Fall stand eine langzeitkrankgeschriebene Arbeitnehmerin vor dem Problem, dass ihre AU-Bescheinigung auslief, und sie aufgrund eines vollen Wartezimmers in ihrer Arztpraxis keinen unmittelbaren Termin zur Verlängerung ihrer Krankschreibung erhalten konnte. Erst zwei Tage später wurde die Bescheinigung ausgestellt. Die Krankenkasse verweigerte daraufhin die Fortzahlung des Krankengeldes, da sie eine lückenlose Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit forderte.
Das Urteil des BSG
Das BSG entschied zugunsten der Arbeitnehmerin. Es stellte fest, dass der Anspruch auf Krankengeld auch dann gewahrt bleibt, wenn die AU-Bescheinigung ohne Verschulden des Versicherten verspätet ausgestellt wird. Das Gericht betonte, dass Versicherte zwar grundsätzlich dafür Sorge zu tragen haben, dass die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig bescheinigt wird, jedoch Ausnahmen zulässig sind, wenn der Versicherte alles Zumutbare unternommen hat.
Die Begründung
Die Richter führten aus, dass die Arbeitnehmerin am ersten Tag nach Ablauf der vorherigen Bescheinigung die Praxis aufsuchte und damit ihre Obliegenheit erfüllte. Die Verzögerung wurde der Arztpraxis und der Krankenkasse zugerechnet, da die Arbeitnehmerin keine Möglichkeit hatte, die Situation zu beeinflussen.
Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit
Das Gericht legte großen Wert auf die Zumutbarkeit der Handlungen der Versicherten. Es wurde klargestellt, dass Patienten ohne vereinbarten Termin am ersten Tag nach Ende der vorherigen AU-Bescheinigung die Praxis aufsuchen dürfen und darauf vertrauen können, eine Folgefeststellung zu erhalten. Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss insbesondere angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen eines Verlusts des Krankengeldanspruchs für die Betroffenen gewahrt bleiben.
Folgen für die Praxis
Das Urteil hat weitreichende Folgen für die Praxis. Es schützt Arbeitnehmer vor der strikten Auslegung von Verfahrensregeln und stellt sicher, dass die Verhältnismäßigkeit im Falle von unvorhersehbaren Umständen wie einem überfüllten Wartezimmer gewahrt bleibt.
Vertrauensschutz
Patienten dürfen darauf vertrauen, dass sie auch ohne Termin eine notwendige Folgebescheinigung erhalten können. Dieser Vertrauensschutz ist nun gerichtlich bestätigt und stärkt die Rechte der Versicherten im Krankheitsfall.
Verantwortung der Krankenkassen
Die Krankenkassen sind aufgefordert, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit zu beachten. Sie müssen sich ein Fehlverhalten der Arztpraxen zurechnen lassen, insbesondere wenn dieses zu einer verspäteten Ausstellung der AU-Bescheinigung führt.